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Portrait Lutz Reyher

Von der Bleipresse zum Bundesverdienstkreuz: Mit Lutz Reyher verstarb einer der Gründungsväter des IAB

Lutz Reyher ist am 19. Januar 2023 im Alter von 95 Jahren in Erlangen gestorben. Das IAB hat Lutz Reyher viel zu verdanken. Bis zu seinem Ausscheiden 1990 war er langjähriger Bereichsleiter und stellvertretender Institutsdirektor des IAB. Mit seiner menschlichen Art und seiner herausragenden Leistung wird er uns in Erinnerung bleiben.

Sein Leben, insbesondere auch seine Erwerbsbiographie, waren noch geprägt von den Turbulenzen der Kriegs- und Nachkriegszeit. Geboren wurde Lutz Reyher am 22.11.1927 in Berlin. In der Endphase des Kriegs 1944 wurde er, 16-jährig, zur Wehrmacht eingezogen und geriet bei Kriegsende in Gefangenschaft. 1946 kehrte er zurück, besuchte wieder die Schule und machte 1947 das Abitur. Die nachfolgenden Arbeitsverhältnisse würde man heute als "Jobs" bezeichnen. Er arbeitete z.B. in einer Schreinerei, in verschiedenen Fabriken und Betrieben wie Coca Cola oder Sprengel, oder auf dem Bau, dann mehrere Jahre an einer Bleipresse in den Kabelwerken Hacketal.  Reyher kannte also die „Arbeit“, die später zum zentralen Inhalt seiner Forschung wurde, auch aus Sicht eigener harter körperlicher Arbeit. Über Weiterbildungskurse des DGB in Hannover kam er ab 1954 mit der Volkswirtschaftslehre in Berührung und entschied sich danach, dieses Fach zu studieren. Er begann an der TH Hannover und wechselte dann an die Freie Universität Berlin, wo er 1960 sein Studium als Dipl.-Volkswirt abschloss und seine spätere Frau Heidi kennenlernte – sie hatten drei Kinder.

Unmittelbar danach, im August 1960, wurde er wissenschaftlicher Referent in der Abteilung Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Dort führte er unter anderem makroökonomische Vergleiche von Arbeitnehmer-Einkommen zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik durch. Zum 01.07.1967 folgte er Dieter Mertens, dem Gründungsdirektor des IAB, in das neu gegründete Institut für  Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, das am 1.Mai 1967 seine Arbeit aufgenommen hatte. Er wurde damit gleichsam einer der Gründungsväter des IAB.

Zunächst war Lutz Reyher im IAB Leiter des Bereichs Konjunktur- und Regionalforschung, später auch für Querschnittsaufgaben verantwortlich. Im Jahre 1975 wurde er Vertreter des ersten Institutsdirektors Dieter Mertens, nach dessen Ausscheiden 1987 leitete er das Institut kommissarisch. Seit 1980 war er zugleich Unterabteilungsleiter der Hauptstelle der damaligen „Bundesanstalt für Arbeit“ (BA) – das IAB war zu der Zeit organisatorisch eine Abteilung der Hauptstelle.

Im Gründungsjahr 1967 wurden im IAB „Rahmenvorstellungen“ für die künftige Arbeit des Instituts entwickelt und in Heft 1 der „Mitteilungen“ (1968) veröffentlicht. Lutz Reyher war von Anfang an dabei und hat die programmatische Ausrichtung des IAB entscheidend mitgeprägt. Sie wurde in mittelfristigen Schwerpunktprogrammen fortgeschrieben.

Angesichts der damaligen Arbeitsmarktlage und im Hinblick auf Politikbereiche, die in der Verantwortung von anderen Institutionen als der BA stehen sowie von Forschungsfeldern, die bereits von anderen wissenschaftlichen Instituten behandelt wurden, schälte sich damals in allgemeinster Formulierung „…als Hauptaufgabe des Instituts die Forschung über langfristige Strukturschwächen des Arbeitsmarktsystems heraus …“. Hierzu gehörte auch die Analyse der Institutionen und Prozesse, die zur Entwicklung und Bewältigung von Problemlagen beitragen.

Derartige Strukturforschung kann aber nicht sinnvoll losgelöst von der globalen Arbeitsmarktentwicklung betrieben werden. Für das IAB waren daher von Anfang an auch die Analysen und Vorausschätzungen des globalen Arbeitsmarktes von zentraler Bedeutung – und für Lutz Reyher eine Kernaufgabe. Die Arbeitszeitforschung baute er zu einem Arbeitsschwerpunkt des IAB aus, das Konzept der „Arbeitskräftegesamtrechnung“ geht ebenfalls auf ihn zurück. Die Analyse von Bewegungen und Verläufen am Arbeitsmarkt trat dabei an die Stelle der zuvor üblichen Fokussierung auf Bestandsveränderungen.

Mit der Ölpreiskrise Anfang der siebziger Jahre, in deren Folge die Arbeitslosigkeit rasant stieg, rückte die kurzfristige Arbeitsmarktanalyse stärker in den Mittelpunkt der Arbeit des IAB. Deren Ergebnisse flossen und fließen heute noch in die jährlichen Gutachten des „Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ ein.

Für die in den 1970er Jahren von der Bundesregierung eingesetzte „Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel erstellte er das Gutachten „Lücken der Arbeitsmarktforschung“. In den Schlussfolgerungen weist er u.a. auf eine Vernachlässigung der Grundlagenforschung hin und auf die Notwendigkeit, Kommunikations- und Koordinationsstrukturen innerhalb der Forschung zu verbessern – Aspekte, die auch heute noch ihre Relevanz haben. Innerhalb des IAB führte dies damals u.a. zur Bildung einer sog. „Theoriegruppe“.

Neben der wissenschaftlichen Arbeit gehört der Transfer der Befunde und Erkenntnisse in Politik und Praxis und die wissenschaftliche Unterstützung der BA zu den ständigen Aufgaben des IAB. Lutz Reyher spielte hierbei eine zentrale Rolle, sei es bei der Vorstellung von Ergebnissen und der Abstimmung der Forschungsschwerpunkte mit den damaligen Forschungsausschüssen der Selbstverwaltung der BA, sei es bei der Beantwortung von Einzelanfragen, die von Ministerien und Parlamenten, von der Leitung und den Fachabteilungen der BA an das IAB herangetragen wurden. Entwickelt wurden in diesem Zusammenhang die „Materialien aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung“, die „Quintessenzen“. Auch das Konzept der „Kurzberichte“ zur Information der Fachöffentlichkeit, die später zum publizistischen Flaggschiff des IAB avancierten, entstand in dieser Zeit unter seiner Mitwirkung.

In Würdigung seiner Lebensleistung wurde ihm 1990 das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen.

In all den Jahren war Lutz Reyher zudem zentrales Bindeglied zwischen Institutsleitung und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die mit ihren vielfältigen Fragen und Sorgen bei ihm immer ein offenes Ohr fanden. Mit Humor und Gelassenheit verstand er es, im eigenen Forschungsbereich und im Institut insgesamt ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und Verbundenheit zu schaffen, Voraussetzung für eine erfolgreiche und für jeden einzelnen auch befriedigende Tätigkeit. Das IAB hat Lutz Reyher viel zu verdanken. Mit seiner menschlichen Art und seiner herausragenden Leistung wird er uns in Erinnerung bleiben.