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Publikation

Entsteht eine neue wirtschaftliche Kluft in Europa?

Beschreibung

"Die langandauernde Auseinanderentwicklung der beiden Teile Europas wird zu Recht den unterschiedlichen Wirtschaftssystemen zugeschrieben. Das Wohlstandsgefälle zwischen Plan- und Marktwirtschaften kam zustande, obwohl in den Planwirtschaften ein viel höherer Teil des Sozialprodukts für Investitionen verwendet wurde. Zwar können durch hohe Investitionsquoten ohnehin nur vorübergehend höhere Wachstumsraten erreicht werden, erstaunlich ist aber, auf welch niedrigem Niveau in den Planwirtschaften bereits Stagnation einsetzte. Mit der Transformation der Wirtschaftssysteme in Mittel- und Osteuropa sollten die systembedingten Wachstumsgrenzen schnell überwunden und die Einkommensniveaus auf westliches Niveau angehoben werden. Tatsächlich kam es jedoch zu einem tiefen Einbruch der gesamtwirtschaftlichen Produktion; die bestehende Kluft wurde noch einmal deutlich vergrößert. Viele Ursachen der zusätzlich erweiterten Kluft lassen sich unter dem Begriff der Ungewißheit zusammenfassen. Die Vorgänge im Zusammenhang mit der Liberalisierung und Öffnung der Volkswirtschaften, der Stabilisierungspolitik, der Privatisierung und der institutionellen Neuorientierung haben für alle Wirtschaftssubjekte die Ungewißheit über künftige Entwicklungen erheblich erhöht. Ungewißheit wirkt sich aber außerordentlich negativ aus, vor allem auf Investitionsentscheidungen. Mittlerweile ist es in einer Reihe von Transformationsländern zu einem Erholungsprozeß gekommen. In Rußland und anderen wichtigen Ländern der GUS hat dagegen der Produktionsrückgang angehalten. Die Gefahr einer dauerhaften Stagnation ist nicht auszuschließen. Doch auch eine Erholung muß nicht unbedingt mit einer Schließung der wirtschaftlichen Kluft einhergehen. Auf jeden Fall aber dürfte die Verringerung von Einkommensabständen sehr langsame vor sich gehen. Das Tempo hängt maßgeblich von den Wachstumsbedingungen in den einzelnen Transformationsländern selbst ab. Die Integration in die EU kann die wirtschaftliche Kluft zwischen Ost- und Westeuropa verringern. Vor allem die Ungewißheit würde spürbar reduziert. Umgekehrt ist bei einem Ausschluß von einer Beitrittsperspektive ein 'Ablehnungsschock' denkbar. Dieser Schock wird meist befürchtet, wenn ein Land von der ersten Runde der EU-Osterweiterung ausgeschlossen bleibt. Er wird jedoch gegebenenfalls erst recht in jenen Ländern spürbar, die nicht nur temporär, sondern prinzipiell keine Beitrittsperspektive haben, was vor allem für Rußland zutrifft. Zudem dürften dort negative Effekte nicht erst jetzt, sondern schon vor einigen Jahren ausgelöst worden sein. Darin könnte ein Erklärungselement für Rußlands, verzögerte Wende bestehen. Auch die Verteilung ausländischer Direktinvestitionen auf die Länder Mittel- und Osteuropas steht nicht im Widerspruch zur Möglichkeit eines Ablehnungsschocks. Wenn aber von einer Beitrittsperspektive zur EU positive Katalysatorwirkungen ausgehen können, dann ist zu fragen, warum die EU Rußland prinzipiell ausgeschlossen hat bzw. immer noch ausschließen möchte. Einige der denkbaren Gründe sind nicht unbedingt stichhaltig, und einige der stichhaltigen Gründe gelten auch für das eine oder andere der jetzigen Assoziationsländer. Insofern erscheint ein grundsätzlicher Ausschluß nur dann verständlich, wenn eine Mitgliedschaft unter keinen Umständen, also auch nicht bei einer positiven Entwicklung des Landes, erwünscht ist. Im umgekehrten Fall sollte anstelle des möglicherweise für das Land schädlichen prinzipiellen 'Nein' auf die - gerade in Rußland nur allzu vertraute - Formel 'Im Prinzip ja' zurückgegriffen werden. Damit blieben zugleich alle Möglichkeiten offen." (Autorenreferat, IAB-Doku)

Zitationshinweis

Brücker, Herbert & Wolfram Schrettl (1997): Entsteht eine neue wirtschaftliche Kluft in Europa? In: Aus Politik und Zeitgeschichte H. B 44/45, S. 17-26.