Ältere Leistungsberechtigte in der Grundsicherung
Beschreibung
"Erwerbsfähige Personen, die arbeitslos sind oder über wenig Einkommen verfügen, können in Deutschland Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach SGB II beziehen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Dies gilt grundsätzlich auch für ältere Leistungsbeziehende bis zur Regelaltersgrenze. Allerdings waren bis zum Jahr 2022 Leistungsberechtigte ab dem Alter von 63 Jahren verpflichtet, aus der Grundsicherung in die gesetzliche Rentenversicherung zu wechseln, falls sie die notwendigen Versicherungsjahre für einen vorzeitigen Renteneintritt haben. Mit dem Bürgergeldgesetz, das zum 1.1.2023 in Kraft trat, wurde diese in §12a SGB II festgelegte Regelung befristet bis Ende 2026 ausgesetzt. Ziel der Reform ist es unter anderem, ältere Leistungsberechtigte im Arbeitsmarkt zu halten. Um die Erwerbspotenziale von älteren Leistungsberechtigten einschätzen zu können, auf die die vorrübergehende Aussetzung von §12a SGB II abzielt, bedarf es deren Charakterisierung. Dieser Forschungsbericht betrachtet deshalb ältere Leistungsberechtigte ab 55 Jahren im SGB II anhand verschiedener Datenquellen. Dabei werden Informationen zum Bestand im und zu den Abgängen aus dem Leistungsbezug bereitgestellt. Auch die Arbeitsmarktnähe sowie die spezifischen Lebens- und Problemlagen älterer Leistungsbeziehender werden näher analysiert. Die Zahl älterer Leistungsberechtigter im SGB II ist von 2007 bis 2023 deutlich gestiegen, in absoluten Zahlen wie auch in Relation zur Gesamtheit der Leistungsberechtigten. Dieser Anstieg geht im Wesentlichen auf Westdeutschland zurück, während der Bestand älterer Leistungsberechtigter in Ostdeutschland im Zeitverlauf gesunken ist. Der Anstieg des Bestandes an älteren Leistungsberechtigten ist weder durch ein Geschlecht noch durch Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit getrieben. Innerhalb der Gruppe der älteren Leistungsberechtigten hat sich die Altersstruktur verschoben. So ist der Anteil der Über-60-Jährigen, insbesondere der Über-63-Jährigen, fast kontinuierlich gestiegen. Letzterer hat sich im Zeitverlauf verdreifacht. Die Arbeitsmarktnähe von älteren Leistungsberechtigten ist in den letzten Jahren gestiegen. So ist zum einen der Anteil der arbeitslos Gemeldeten, d.h. derjenigen, die für eine Erwerbsintegration zur Verfügung stehen, unter den älteren Leistungsberechtigten von etwa 35 Prozent im Jahr 2010 auf rund 45 Prozent im Jahr 2023 gewachsen. Fehlt bei älteren Leistungsberechtigten die Arbeitslosigkeitsmeldung, so sind hierfür häufig Arbeitsunfähigkeit oder Sonderregelungen für Ältere im SGB II, die sie von der Verpflichtung Arbeit zu suchen ausnehmen, die Ursache. Der Anteil dieser Personen hat tendenziell abgenommen. Zugenommen hat neben der Arbeitslosigkeit auch die Zahl der älteren Leistungsberechtigten, die erwerbstätig sind. 2023 war knapp jeder fünfte Leistungsberechtigte über 55 erwerbstätig. Dabei spielt v.a. geringfügige Beschäftigung eine Rolle. Zusammenfassend deuten sowohl die steigende Zahl an arbeitslos gemeldeten Älteren als auch die verbreitete geringfügige Erwerbstätigkeit unter älteren Leistungsberechtigten darauf hin, dass es zumindest in einem gewissen Umfang Erwerbspotenziale unter älteren Leistungsberechtigten gibt, die durch die befristete Aussetzung von §12a SGB II gehoben werden könnten. Neben dem Bestand älterer Leistungsberechtigter beleuchtet dieser Forschungsbericht auch das Abgangsverhalten aus dem Leistungsbezug und die Integrationen in Erwerbstätigkeit. Die Abgangsquoten von Leistungsberechtigten über 55 Jahren sind deutlich geringer als die von jüngeren Altersgruppen. Lediglich für Leistungsberechtigte, die das 63. Lebensjahr vollendet haben, können nennenswerte Abgänge aus dem Leistungsbezug festgestellt werden, wobei es sich vor allem um Übergänge in die Rente handeln dürfte. Abgänge aus dem Leistungsbezug von Älteren variieren im Zeitverlauf dementsprechend auch stark mit Änderungen in den Rentenzugangswegen, d.h. man beobachtet Abgänge besonders an bestimmten Altersgrenzen, an denen ein Rentenzugang möglich ist. Dass Leistungsberechtigte über 55 Jahre den Leistungsbezug durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit beenden, ist sehr selten. Insbesondere bei Leistungsberechtigten ab 60 Jahren sind solche Beschäftigungsintegrationen kaum existent. Und es ist hier auch kein positiver Trend zu erkennen. Daher erscheint die Zielsetzung der vorübergehenden Aussetzung von §12a SGB II, nämlich den erzwungenen Ausstieg älterer Leistungsberechtigten aus dem Arbeitsmarkt zu begrenzen, wenig realistisch. Denn die Aufnahme einer bedarfsdeckenden Beschäftigung gelingt nur sehr wenigen. Eine Betrachtung der individuellen Erwerbs- und Leistungsbezugsbiografien gibt weiteren Aufschluss über die Arbeitsmarktnähe der älteren Leistungsbeziehenden und zeigt, dass über 75 Prozent sehr lange Leistungen beziehen. Ein kleiner Teil dieser Personen ist gleichzeitig erwerbstätig – zumeist in geringfügiger Beschäftigung –, der Großteil jedoch weist nur eine sehr geringe Erwerbsbeteiligung auf. Daneben ist die Biografie von gut 20 Prozent der älteren Leistungsberechtigten von kürzerem Leistungsbezug und einer etwas höheren Erwerbsbeteiligung geprägt. Somit herrscht innerhalb der Gruppe der älteren Leistungsbeziehenden eine gewisse Heterogenität in Bezug auf Arbeitsmarktstatus und Bezugsdauer. Außerdem sind die Biografien im Falle der Beendigung des Leitungsbezugs von den Zugangsmöglichkeiten in die gesetzliche Rente geprägt: Das Verlassen des Leistungsbezugs findet häufig an den Altersgrenzen von 63 Jahren und ab 65 Jahren statt. Auch wenn sich auf Basis der administrativen Individualdaten nicht direkt ablesen lässt, dass die Abgänge aus dem Leistungsbezug in diesen Fällen mit dem Übertritt in die Rente zu tun haben, liegt diese Vermutung sehr nahe. Denn Befragungsdaten geben darüber Aufschluss, in welcher Situation sich Personen, die mit 62 Jahren Leistungen bezogen haben, im Alter von 64 Jahren befinden: Demnach verbleibt der Großteil im Leistungsbezug nach SGB II, etwa 6 Prozent beziehen Leistungen nach SGB XII und etwa ein Viertel bezieht keine Leistungen mehr. Von letzteren bezieht ein Großteil Rente. Die Aufnahme einer eigenen mehr als geringfügigen Erwerbstätigkeit spielt hingegen bei dem Abgang aus dem Leistungsbezug kaum eine Rolle. Unklar bleibt aber grundsätzlich, ob ein etwaiger Renteneintritt freiwillig erfolgt ist oder der Anwendung von §12a SGB II geschuldet war, also der Pflicht zur vorzeitigen Inanspruchnahme von Rentenleistungen. Im Einklang mit früheren Studienergebnissen haben Leistungsbeziehende in den Daten des Panels „Arbeitsmarkt und soziale Sicherung“ häufig niedrigere Bildungsabschlüsse, leben häufiger alleine, haben häufiger einen Migrationshintergrund und berichten über einen schlechteren Gesundheitszustand. Die Erkenntnisse des Forschungsberichts lassen an der Erreichung des Zieles der vorübergehenden Aussetzung von §12a SGB II zweifeln, ältere Leistungsberechtigte im Arbeitsmarkt zu halten und ihre Erwerbspotenziale zu heben. Die Erwerbspotenziale erscheinen begrenzt. Um sie zu heben, bedarf es zusätzlicher flankierender Maßnahmen wie stärkerer Beratungs- und Vermittlungsaktivitäten. Dabei dürfte insbesondere eine Förderung der Leistungsberechtigten zwischen 55 und 60 Jahren zielführend sein." (Autorenreferat, IAB-Doku)
Zitationshinweis
Belzer, Jana, Torsten Lietzmann & Stephanie Prümer (2025): Ältere Leistungsberechtigte in der Grundsicherung. (IAB-Forschungsbericht 19/2025), Nürnberg, 74 S. DOI:10.48720/IAB.FB.2519