Arbeitsmarkt Schweiz - ein Erfolgsmodell?
Beschreibung
"Die schweizerische Arbeitsmarktsituation ist durch einige spezifische Befunde gekennzeichnet: höchste Beschäftigungsquote aller OECD-Länder, höchste Teilzeitquote (nach dem 'Teilzeitweltmeister' Niederlande), höchste Ausländeranteile (außer dem Sonderfall Luxemburg), eine der längsten Arbeitszeiten in Westeuropa. Letzteres relativiert die hohen Lohnsummen: für hohe Einkommen muss in der Schweiz lange gearbeitet werden. Kritisch bleibt anzumerken, dass das Wirtschaftswachstum und die Produktivität in der Nachkriegszeit meist recht niedrig ausfiel. Ebenso kritisch muss daran erinnert werden, dass bei der Liberalisierung der Produktmärkte zwar Fortschritte erzielt wurden, es aber noch viel zu tun gibt, z. B. beim Telekommunikationssektor und dem Agrarmarkt. Für die immer noch günstige Arbeitsmarktlage (Arbeitslosenquote 2002: 2,9%) gibt es keine monokausale Erklärung. Das Zusammenspiel von verschiedenen Systemelementen und mutigen Reformen ist dafür verantwortlich. Zusammengefasst zeigt sich, dass in der Schweiz eher als beispielsweise in Deutschland der Arbeitsmarkt ein Markt ist. Die Entscheidungsfindung bezüglich der Löhne erfolgt weitgehend dezentral auf der Ebene der einzelnen Unternehmung (es gibt keine einheitlichen Flächentarifverträge). Dazu kommt, dass bei der Sozialen Sicherheit das Äquivalenzprinzip strikt verfolgt wird. Es gibt - anders als in Deutschland - eine deutliche Trennung von sozialpolitisch begründeter Umverteilung und Versicherung. Es gilt stärker der Grundsatz, dass Gerechtigkeitsziele durch direkte (personenbezogene) an wirtschaftlich Schwache gerichtete steuerfinanzierte Leistungen erreicht werden sollen und dass Sicherheitsziele eher durch individuelle beitragsfinanzierte Vorsorgemaßnahmen (z. B. Gesundheitswesen) bei privaten Versicherungen erreicht werden. Dadurch ist in der Schweiz der Abstand zwischen Brutto und Netto weit geringer. Ein Schlüsselfaktor für die erstaunliche Reaktionsfähigkeit des schweizerischen Arbeitsmarktes liegt auch in der dezentralen Organisationsstruktur in Politik (direkte Demokratie), Gesellschaft (föderativer Staatenaufbau mit weitrechender Gemeindeautonomie z. B. in der Besteuerung und den öffentlichen Leistungen) und der Wirtschaft. Die Willensbildung erfolgt in allen Bereichen von unten nach oben. Die Konsequenzen eines Tuns (z. B. öffentliche Leistungen versus Steuererhöhungen) werden vor Ort wahrgenommen und entschieden. Der dezentrale Charakter zeigt sich auch am Arbeitsmarkt. Durch die Festsetzung der Löhne auf Unternehmensebene wird den Betrieben zumindest kurzfristig ein Spielraum bei den Personalkosten eröffnet. Arbeitsstreitigkeiten werden i. d. R. nicht in Streiks ausgetragen, sondern zuallererst innerbetrieblich gelöst." (Autorenreferat, IAB-Doku)
Zitationshinweis
Straubhaar, Thomas & Heinz Werner (2003): Arbeitsmarkt Schweiz - ein Erfolgsmodell? In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Jg. 36, H. 1, S. 60-76.