Springe zum Inhalt

Publikation

Wie der mediale Diskurs über Armut von den Betroffenen wahrgenommen wird

Beschreibung

"Dieser Beitrag setzt bestimmte Formen massenmedialer Darstellung von Armut und Armutsbetroffenen in einen etwas weiteren Kontext. Dabei sind wir von der Annahme ausgegangen, dass Form und Inhalt dieser Präsentation sich in einen jeweiligen historischen, zeitgeistigen Rahmen und dessen Blickwinkel auf den entsprechenden Gegenstand einfügen. Hier ist dieser Rahmen durch eine Abkehr der Blickrichtung weg von strukturellen Ursachen der Armut hin zu einer Fokussierung auf betroffene Individuen gekennzeichnet. Armut wird somit weniger als erlitten, sondern vielmehr als durch eigenes Verhalten und eigene (falsche) Lebensentscheidungen Leistungsbeziehender herbeigeführt dargestellt. Dieser Perspektivwechsel mag auf der einen Seite zu sozialarbeiterischen Bemühungen eines Empowerments Armutsbetroffener führen, wirft andererseits die Frage nach deren Mitverantwortung bzw. Schuld auf. Ob intendiert oder nicht, der hier in den Blick genommene massenmediale Diskursstrang kann diese Schuldvermutung fördern und verhält sich damit komplementär zu einer politischen Programmatik, die ebenfalls eher an Fragen individuellen (Fehl)Verhaltens und weniger an armutsverursachenden Strukturen ansetzt. Die auf der Fokussierung auf oft nur scheinbar missbräuchliche Inanspruchnahme von Sozialleistungen beruhende Skandalisierungsstrategie, das durch entsprechende Medienformate vorangetriebene ›Othering‹ des armen bzw. verarmten Bevölkerungsteils und dessen Positionierung als Kostgänger der arbeitenden Menschen hat sich als wirkmächtig erwiesen. Ausdruck davon ist der skeptische Blick weiter Bevölkerungsteile auf Armutsbetroffene, der von Zweifeln an deren Integrität durchsetzt ist – und die Frage aufwirft, welches Maß an Unterstützung diese verdienen. Umgekehrt jedoch müssen sich Armutsbetroffene in ihrem alltäglichen Leben und ihrem Lebensgefühl mit dem von ihnen gezeichneten (Zerr)Bild auseinandersetzen. Dabei wird die immanente Widersprüchlichkeit der hier betrachteten Faulheitsdebatte deutlich: Sie bezweifelt und fordert auf der einen Seite den ›Integrationswillen‹ der Betroffenen, verfestigt auf der anderen Seite ein essentialistisches Bild armutsbetroffener Menschen als der Gesellschaft entfremdet – erzeugt somit ein paradoxales ›Drinnen‹ und ›Draußen‹ zugleich.Wie sehr diese Form der Darstellung exkludierend wirkt, zeigt sich, wenn, wie in diesem Beitrag, Betroffene selbst zu Wort kommen. Auch wenn aktuell neue zeitgeistige Themen in den Vordergrund rücken, viele Debatten inzwischen im schwer zu durchdringenden Raum neuer sozialer Medien geführt werden und das Armutsthema massenmedial etwas in den Hintergrund gerückt ist: Der Topos des faulen Armen scheint sich –über den hierin den Mittelpunkt gerückten Rückblick auf die Hartz-IV-Debatte – nachhaltig im armutspolitischen Diskursrepertoire festgesetzt zu haben. Dies belegt nicht zuletzt die Debatte um die aktuelle Reform des deutschen ›Bürgergeldes‹.Wer diese mitverfolgt, wird unschwer auf Wiedergänger des Topos jener, vielleicht bloß vermeintlichen, ›Arbeitsverweigerer‹ stoßen." (Autorenreferat, IAB-Doku)

Zitationshinweis

Hirseland, Andreas & Stefan Röhrer (2024): Wie der mediale Diskurs über Armut von den Betroffenen wahrgenommen wird. Affektpolitik auf dem Rücken der Armen? In: A. Kerle, F. Kessl & A. Knecht (Hrsg.) (2024): Armutsdiskurse. Perspektiven aus Medien, Politik und Sozialer Arbeit, S. 159-169.