Deutschland als Zwischenstation? Rückkehr- und Weiterwanderungsabsichten von Eingewanderten im Lichte neuer Daten des International Mobility Panel of Migrants in Germany (IMPa)
Beschreibung
"Temporäre Migration von Menschen, die nach Deutschland eingewandert sind, ist ein häufig wahrgenommenes Phänomen, Tendenz steigend. Zwischen 2014 und 2023 lag die durchschnittliche jährliche Fortzugsrate ausländischer Personen je nach Datenquelle bei 6 bis 11 Prozent. Gleichzeitig ist Deutschland zur Stabilisierung seines Arbeitskräftepotenzials auf eine jährliche Nettozuwanderung von rund 400.000 Personen angewiesen. Eine hohe Mobilitätsneigung unter Eingewanderten kann das Erreichen dieses Ziels gefährden – mit weitreichenden negativen Konsequenzen für Fachkräftesicherung, Integration und die langfristige Tragfähigkeit des Sozialstaats. Um belastbare Erkenntnisse zu Ursachen, Mustern und Auswirkungen von Mobilität zu gewinnen, wurde mit dem International Mobility Panel of Migrants in Germany (IMPa) eine neue längsschnittliche Online-Befragung etabliert. Dabei sollen alle zwei Jahre neue Erstbefragungen stattfinden, ergänzt durch eine jährliche Wiederholungsbefragung über einen Zeitraum von insgesamt vier Jahren. In der ersten Welle (Dezember 2024 bis April 2025) haben rund 50.000 Migranten und Migrantinnen teilgenommen, die erste Wiederholungsbefragung startet in der zweiten Jahreshälfte 2025. Mithilfe statistischer Hochrechnungsverfahren lassen sich repräsentative Aussagen über Personen in Deutschland treffen, die bis zum 2. April 2024 nach Deutschland eingewandert sind, in den Daten der BA erfasst wurden (durch Beschäftigung, Leistungsbezug oder Maßnahmenteilnahme) und im erwerbsfähigen Alter (18 bis 65 Jahre) sind. Zentrale Ergebnisse der ersten Welle zeigen: Eine knappe Mehrheit der Eingewanderten (57 Prozent, rund 5,7 Millionen Personen) plant, dauerhaft in Deutschland zu bleiben. Rund 1,2 Millionen (12 Prozent) streben dagegen nur einen vorübergehenden Aufenthalt an („temporäre Bleibeabsichten“), etwa 3 Millionen (30 Prozent) sind unentschlossen. 2,6 Millionen Personen (26 Prozent) gaben an, im vergangenen Jahr über eine Ausreise nachgedacht zu haben; rund 300.000 (3 Prozent) hegen bereits konkrete Abwanderungspläne – jeweils etwa zur Hälfte in Richtung Herkunftsland oder in ein Drittland. Angesichts des wachsenden strukturellen Fachkräftebedarfs wird also nicht nur der Zuzug, sondern auch die dauerhafte Bindung Zugewanderter wird zur zentralen Herausforderung. Die Befunde zeigen, dass sich die konkreten Wanderungsabsichten stark von Gruppe zu Gruppe unterscheiden. Rückkehrwillige steuern vor allem europäische Länder wie Polen oder Rumänien an, während Weiterwandernde insbesondere die Schweiz, die USA oder Spanien bevorzugen. Die Motive variieren ebenfalls: Bei der Rückkehr ins Herkunftsland spielen vor allem familiäre Gründe eine Rolle, während verbesserte ökonomische Chancen ein zentrales Motiv für die Weiterwanderung sind. Als Hauptgründe für Auswanderungsüberlegungen werden politische Unzufriedenheit, persönliche Vorlieben sowie hohe steuerliche Belastungen und Bürokratie in Deutschland genannt. Diese Motive zeigen sich sowohl bei Arbeitsmigrantinnen und -migranten als auch bei Bildungs- und Familieneinwandernden; Geflüchtete nennen zusätzlich Diskriminierungserfahrungen als wichtigen Grund. Insgesamt deutet vieles darauf hin, dass staatliche Maßnahmen wie Bürokratieabbau, Verfahrensvereinfachungen oder Steuererleichterungen die Abwanderungsneigung verringern könnten. Hinsichtlich der soziodemografischen und migrationsspezifischen Faktoren zeigen die Umfrageergebnisse, dass diese eine zentrale Rolle für die Abwanderungsabsichten spielen. Männer äußern häufiger temporäre Bleibeabsichten, Auswanderungsüberlegungen und konkrete Auswanderungspläne als Frauen. Herkunftsregion und Zuzugsgrund beeinflussen die Abwanderungsneigung ebenfalls erheblich: Geflüchtete und Personen, die im Rahmen des Familiennachzugs kamen, zeigen deutlich geringere Abwanderungstendenzen, während Migrantinnen und Migranten aus EU-Staaten sowie aus arbeits- und bildungsbezogenen Migrationskontexten eine höhere Mobilität aufweisen. Zudem ist die Abwanderungsneigung unter Personen mit unbefristetem Aufenthaltsstatus oder EU-/deutscher Staatsangehörigkeit größer – vermutlich aufgrund erweiterter Mobilitätsoptionen. Zudem haben Arbeitsmarktfaktoren und ökonomische Verankerung einen wichtigen, aber differenzierten Einfluss auf die Abwanderungsabsichten von Eingewanderten. Bildung ist ein zentraler Prädiktor: Höherqualifizierte äußern deutlich häufiger Auswanderungsüberlegungen und konkrete Auswanderungspläne als Personen mit niedrigerem Bildungsniveau. Auch Personen mit in Deutschland oder in Drittstaaten erworbenen Abschlüssen sowie in Deutschland anerkannten ausländischen Qualifikationen überlegen häufiger, ins Ausland zu gehen – vermutlich aufgrund der höheren internationalen Übertragbarkeit ihrer Qualifikationen. Erwerbstätige wollen nach eigenen Angaben häufiger nur vorübergehend in Deutschland bleiben als Nichterwerbstätige oder Auszubildende. Jene Branchen, in denen das Abwanderungsrisiko unter Eingewanderten besonders hoch ist – wie IT und technische Dienstleistungen – zählen zugleich zu den Sektoren mit erheblichem Fachkräftemangel. Zudem fällt auf, dass in anderen besonders engpassgefährdeten Bereichen – etwa im Gesundheitswesen, der Bauwirtschaft, der öffentlichen Verwaltung oder im Einzelhandel – zwar keine überdurchschnittlich hohen, aber dennoch relevante Auswanderungstendenzen bestehen. Auch höhere Verdienste sind mit stärkeren Auswanderungsüberlegungen und -plänen verbunden, was darauf hinweist, dass besonders die gut in den Arbeitsmarkt Integrierten, Deutschland wieder verlassen wollen. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Arbeitszufriedenheit: Je unzufriedener die Beschäftigten mit ihrer Tätigkeit sind, eher neigen sie dazu, Deutschland den Rücken zu kehren. Arbeitszufriedenheit erweist sich damit als wichtiger Stabilitätsfaktor. Auch Sprachkenntnisse machen einen Unterschied: Während deskriptive Befunde darauf hindeuten, dass Personen mit schlechten Deutschkenntnissen eher seltener die Absicht haben, dauerhaft in Deutschland zu bleiben, zeigen multivariate Analysen, dass gerade gute Deutschkenntnisse mit einer erhöhten Mobilitätsneigung verbunden sind. Auch gute Englischkenntnisse erhöhen tendenziell die Abwanderungsneigung, was auf bessere internationale Arbeitsmarktoptionen hindeuten könnte. Auch soziale Integration und gesellschaftliche Teilhabe haben einen entscheidenden Einfluss auf die Abwanderungsabsichten von Eingewanderten. Familiäre Bindungen in Deutschland sowie soziale Kontakte zu Deutschen wirken stabilisierend. Auch eine starke emotionale Verbundenheit mit Deutschland festigt den Wunsch, sich dauerhaft hierzulande niederzulassen, während eine enge Bindung an das Herkunftsland die Abwanderungsneigung erhöht. Auch ein starkes subjektives Willkommensgefühl und geringe Diskriminierungswahrnehmungen senken deutlich die Wahrscheinlichkeit von Auswanderungsüberlegungen und -plänen. Umgekehrt verstärkt die Wahrnehmung von Diskriminierung – insbesondere im Kontakt mit Behörden, Polizei und am Arbeitsplatz – die Abwanderungstendenzen erheblich. Politische Unzufriedenheit erhöht ebenfalls signifikant die Wahrscheinlichkeit von Abwanderungsgedanken und -plänen. Insgesamt verdeutlichen die Ergebnisse, dass Abwanderungsabsichten nicht zufällig entstehen, sondern das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels individueller Merkmale, sozialer Integration, wirtschaftlicher Verankerung und wahrgenommener gesellschaftlicher Akzeptanz sind. Ein zentrales Ergebnis der Befragung ist, dass gerade die für Erwerbs- oder Bildungszwecke zugezogenen, besser gebildeten, wirtschaftlich erfolgreicheren sowie sprachlich besser integrierten Migrantinnen und Migranten – also genau jene, die Deutschland dringend für die Fachkräftesicherung benötigt – überdurchschnittlich häufig über eine Ausreise nachdenken oder konkrete Abwanderungspläne äußern. Diese selektive Mobilitätsneigung gefährdet die langfristige Fachkräftesicherung in Deutschland. Umso wichtiger ist es, diesen zentralen Gruppen eine echte Perspektive zu bieten und Deutschland nicht nur als Einwanderungs-, sondern als dauerhaft attraktives Lebens- und Arbeitsland zu positionieren. Dazu gehören schnellere und transparentere Verfahren bei der Anerkennung von Qualifikationen, ein entschlossener Abbau bürokratischer Hürden, eine familienfreundliche Integrationspolitik sowie gezielte Maßnahmen gegen Diskriminierung im Alltag und am Arbeitsplatz. Nur wenn Zugewanderte sich als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft erleben – mit realen Chancen auf Teilhabe und beruflichen Aufstieg –, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie Deutschland auch langfristig als Lebensmittelpunkt wählen und ihre beruflichen wie privaten Zukunftspläne hier verwirklichen möchten. Bislang hat nur etwa ein Fünftel derjenigen, die Auswanderungspläne äußern, bereits konkrete Schritte zu deren Umsetzung unternommen. Gleichzeitig wünscht sich rund ein Fünftel dieser Gruppe eine langfristige Rückkehr nach Deutschland, während ein Drittel eine Rückkehr ausschließt und etwa die Hälfte unentschlossen ist. Daraus ergibt sich ein erhebliches Rückkehrpotenzial: Zwei Drittel der Auswanderungswilligen schließen eine spätere Rückkehr nicht aus. Dieses Potenzial gezielt zu aktivieren und unterstützend zu begleiten, könnte ein wirkungsvoller Baustein in einer strategischen Fachkräftesicherungspolitik sein." (Autorenreferat, IAB-Doku)
Zitationshinweis
Kosyakova, Yuliya, Lukas Olbrich, Katia Gallegos Torres, Luisa Hammer, Theresa Koch & Simon Wagner (2025): Deutschland als Zwischenstation? Rückkehr- und Weiterwanderungsabsichten von Eingewanderten im Lichte neuer Daten des International Mobility Panel of Migrants in Germany (IMPa). (IAB-Forschungsbericht 15/2025), Nürnberg, 95 S. DOI:10.48720/IAB.FB.2515