Tarifpolitik in Ostdeutschland zwischen gesellschaftlichen Zwängen und ökonomischer Rationalität
Beschreibung
"Die Angleichung der ostdeutschen Monatslöhne und -gehälter an das westdeutsche Niveau ist relativ weit fortgeschritten: Sie lag 1997 je nach Betrachtung zwischen fast 90 Prozent (tarifliche Grundvergütungen bzw. reale Nettoverdienste) und gut 77 Prozent (effektive Bruttoverdienste). Die Erwerbstätigen-Produktivität erreichte dagegen 1997 im Durchschnitt der neuen Länder nur gut 62 Prozent des westdeutschen Niveaus und fällt damit deutlich geringer aus als die Ost/West-Angleichung der Arbeitseinkommen. Da diese Produktivitätsdifferenz stark nach Branchen und Betrieben variiert, sollte auch die Lohnpolitik nicht nur moderater, sondern vor allem differenzierter und produktivitätsorientierter gestaltet werden. Die Tarifpolitik in Ostdeutschland muß sich weitgehend von westdeutschen Vorgaben lösen und eigenständige Regelungen der Löhne und Arbeitsbedingungen finden, die der spezifischen Situation der ostdeutschen Unternehmen besser Rechnung tragen. So wichtig das Ziel einer schnellen Angleichung der Einkommens- und Lebensverhältnisse politisch auch sein mag - Beschäftigungsaspekte dürfen nicht weiterhin im bisherigen Maße vernachlässigt werden. Um ihrer beschäftigungspolitischen Verantwortung gerecht zu werden, muß die ostdeutsche Tarifpolitik einerseits eine Entlastung betroffener Betriebe von überhöhten Lohnkosten und andererseits eine stärkere betriebliche Differenzierung der Löhne und Arbeitsbedingungen ermöglichen. Dafür stehen prinzipiell mehrere Vorgehensweisen zur Verfügung, die die häufig rechtswidrige Praxis der Lohnsetzung in Ostdeutschland wieder in den Rahmen des geltenden Arbeitsrechts zurückbringen würden - sei es durch eine direkte Verlagerung der Lohnpolitik auf die Betriebsebene oder durch Öffnung von Flächentarifverträgen für betriebsspezifische Sonderregelungen. Je schneller die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände die ihnen von der Tarifautonomie eingeräumten Regelungsbefugnisse für eine Öffnung zugunsten dezentraler und differenzierter Lösungsmöglichkeiten nutzen, desto besser sind sowohl ihre eigenen Überlebenschancen als auch die des Flächentarifvertragssystems in Ost- und Westdeutschland." (Autorenreferat, IAB-Doku)
Zitationshinweis
Schnabel, Claus (1999): Tarifpolitik in Ostdeutschland zwischen gesellschaftlichen Zwängen und ökonomischer Rationalität. In: E. Wiedemann, C. Brinkmann, E. Spitznagel & U. Walwei (Hrsg.) (1999): Die arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitische Herausforderung in Ostdeutschland : Workshop der Bundesanstalt für Arbeit am 14./15. Oktober 1998 in Magdeburg (Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 223), S. 451-474.