Mit dem Bürgergeld setzt die Ampel-Koalition 2023 eine Reform des Hartz-IV-Systems mit Erleichterungen für Leistungsbeziehende durch. Die Beurteilungen der Reform in medialen und politischen Debatten fallen kontrovers aus: während einige Beobachterinnen und Beobachter das Bürgergeld als weitgehende Fortführung vieler Grundprinzipien des „alten“ Hartz IV-Systems deuten, warnen andere alarmistisch vor der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens durch die Hintertür. Unklar ist bislang jedoch vor allem, wie langzeitarbeitslose ALG II-Beziehende die anstehende Reform beurteilen und welche Präferenzen sie zu Kerninhalten wie Sanktionen, Vermögensprüfungen und Kosten der Unterkunft äußern. Der vorliegende Beitrag nimmt dies als Ausgangspunkt für eine empirische Beleuchtung. Auf Basis einer zufallsbasierten Befragung in acht Jobcentern in Nordrhein-Westfalen werden die Perspektive von Langzeitarbeitslosen untersucht: Wie schätzen sie zentrale Reforminhalte ein? Wie nehmen Langzeitarbeitslose ihre individuelle Situation im Leistungsbezug wahr? Womit verbringen sie ihre Zeit und welche Erfahrungen haben sie mit den Jobcentern als street-level bureaucracy gemacht? Die Befunde offenbaren mehrheitlich positive, aber mit Blick auf einzelne Reformaspekte differenzierte Einschätzungen zu Kerninhalten des Bürgergeldes. Bessere Hinzuverdienstmöglichkeiten werden beispielsweise von einer großen Mehrheit der Langzeitarbeitslosen befürwortet, während einen grundsätzlichen Verzicht auf Sanktionen viele auch skeptisch sehen. Über 40 Prozent der Langzeitarbeitslosen berichten zudem, sich „voll und ganz“ oder „eher“ für den Grundsicherungsbezug zu schämen; knapp zwei Drittel stimmen „voll und ganz“ oder „eher“ der Aussage zu, dass andere Leistungsbeziehende das System ausnutzen. Viele Leistungsbeziehende sind eigenen Angaben zufolge ehrenamtlich und nachbarschaftlich aktiv. Eine zukünftig verbesserte Förderung solcher Tätigkeiten birgt jenseits der Vermittlung in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung Chancen für die Stärkung der sozialen Teilhabe. Kurz- und mittelfristig wird zudem die Inflation eine spürbare Erhöhung des Regelsatzes notwendig machen, um Armutsrisiken abzumildern. Zudem sollten die Chancen eines Modellprojekts zur Evaluierung der Wirkungen von Sanktionen genutzt werden, um dieses kontroverse Thema evidenzbasiert bewerten zu können.
Termin
20.10.2022
, 13:00 bis 14:00 Uhr
Zu Gast
Professor Jürgen Schupp (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und Freie Universität Berlin und Dr. Fabian Beckmann (Universität Bochum)
Ort
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
Regensburger Straße 104
90478 Nürnberg
oder via Skype
Anmeldung
Bis auf weiteres werden die Vorträge per Skype-for-Business übertragen. Bei Interesse melden Sie sich mit einer kurzen Mail an IAB.Colloquium@iab.de unter Angabe des jeweiligen Vortrags an.