Zur Medikalisierung sozialpolitischer Konflikte
Abstract
"Das Risiko der industriellen Pathogenität wurde 1884 mit dem Unfallversicherungsgesetz definiert und kanalisiert. Ärzte regeln seitdem den Zugang zu den Leistungen der Unfallversicherungsträger (Berufsgenossenschaften). Frühzeitig wurden dabei bis heute gültige Verfahren entwickelt, die eine Prüfung anatomisch-physiologischer Schädigungen auf dem Hintergrund von Normalitätsunterstellungen (Konstitution und Alter) beinhalten.<br> Es stehen sich in der arbeitsmedizinischen Praxis zwei Anforderungsmuster gegenüber. Auf der einen Seite wird vom Betriebsarzt erwartet, daß er die Arbeitssituation in Zusammenhang mit dem Gesundheitszustand des Arbeitnehmers bringt und daraus präventive Maßnahmen ableitet. Auf der anderen Seite soll er lediglich die körperliche Leistungsfähigkeit der Person diagnostizieren. Damit steht er, verglichen mit allen anderen Institutionen des betrieblichen Gesundheitsschutzes, besonders undifferenzierten Anforderungen gegenüber.<br> Das regelmäßige Verhalten von Betriebsärzten in Entscheidungssituationen an Statuspassagen ist beispielhaft einmal für die verschiedenen Funktionen von Ärzten, Statuspassagen im Erwerbsleben zu regulieren, und generell für die Rolle von Experten, Passagen zu steuern und Risikolagen zu definieren, zu generieren und zu kompensieren. Das Verhalten ist abhängig von beruflicher und professioneller Ausstattung ("Berufsinventar") einerseits und Kontextfaktoren andererseits. Das Berufsinventar enthält arbeitsmedizinisches Wissen, die institutionelle Ausgestaltung (insbesondere die vertragliche Stellung zum Betrieb) und beides integrierend den beruflichen Habitus, den wir als Grad der Professionalisierung verstehen. Kontextfaktoren, deren Wirkung auf das betriebsärztliche Verhalten wichtig ist, sind in der Sozialverfassung des Betriebes insbesondere dem betriebskulturellen Umgang mit chronisch Kranken und Leistungsgeminderten zu sehen." (Autorenreferat)
Cite article
Behrens, J., Milles, D. & Müller, R. (1990): Zur Medikalisierung sozialpolitischer Konflikte. Gutachtermedizin zwischen Sozialstaat und Individuum. In: W. Dressel, W. R. Heinz, G. Peters & K. Schober (Hrsg.) (1990): Lebenslauf, Arbeitsmarkt und Sozialpolitik (Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 133), p. 151-173.